Ein unerwartetes Ende des Engelamtes

Ein unerwartetes Ende des Engelamtes
Es ist schon 50 Jahre her, als ich ein Erlebnis hatte in der Vorweihnachtszeit, von dem ich heute erzählen möchte. Und zwar hat das mit einer Veranstaltung zu tun, die man zu der Zeit noch Engelamt bezeichnete und bei der ich als Organist eigentlich mittendrin war, aber bei der erzählten Szene nur Zuschauer bzw. Zuhörer war.
Was ist eigentlich ein Engelamt? Dazu ein kleiner Ausflug in geschichtliche bzw. semantische Urzeiten: Ein Engelamt war eigentlich ein feierlicher adventlicher Gottesdienst bei Kerzenlicht. Der fachliche Name für diese Feiern lautet: Rorateamt oder Roratemesse. Und das klingt schon verdächtig nach einem lateinischen Namen. Der Name „Rorate-Messe“ stammt vom Anfangswort des lateinischen Eröffnungsverses: „Rorate caeli de super… „(auf Deutsch: Tauet Himmel von oben), der uns auch im Adventlied „Tauet Himmel den Gerechten… “ vertraut ist. Wenn man Engel und Adventszeit in Verbindung bringt, so denkt man zunächst an den Erzengel Gabriel, der Maria die Botschaft bringt, sie werde ein Kind vom Heiligen Geist empfangen. Und daher kommt wohl der Begriff Engelamt-
Als winterliche Frühmesse wurde das Engelamt zumindest bis zum Vatikanischen Konzil bei Kerzenschein gefeiert, keine stille Messe, sondern mit feierlichem Volksgesang und vielleicht, was in früheren Jahren noch nicht so häufig war, von feierlicher Stubenmusik umrahmt.
Wie oft die Engelämter gefeiert wurden, weiß ich nicht mehr, aber ich glaube einmal pro Adventswoche. Die Stimmung war schon ganz besonders: Man stapfte bei klirrender Kälte durch tiefen Schnee (von Klimadebatte noch keine Spur); der Kirchenraum war nur von Kerzenlichtern erhellt, adventliche Lieder wurden voller Inbrunst gesungen. Und für heute fast unvorstellbar: Jedes Mal war die Kirche brechend voll, und das an einem Werktag.
In früheren Jahrhunderten wurden die Rorate-Ämter durch Spiele oder szenische Darstellungen bereichert, die vor allem in der Barockzeit besonders beliebt waren. Dem meist leseunkundigen Volk wurden die Heilswahrheiten spielend vor Augen geführt – gespielte Armenbibeln.
Eine urkomische unfreiwillige „szenische Darstellung“ erlebte ich zu meiner Zeit als Organist in der Pfarrkirche in Marzling: etwas, was aber nicht in einer Bibel vorkam oder den Christen zur Nachahmung empfohlen werden könnte.
Die Frühmesse, besser das Frühamt, denn es war ja, wie beschrieben, mit feierlichem Volksgesang bei Kerzenlicht, war gerade beendet, die Leute hatten sich aus den Betstühlen erhoben und waren in dem noch dunklen Adventsmorgen verschwunden oder beteten für ihre Angehörigen an den schwach erleuchteten Gräbern am Friedhof ringsum das Kirchengebäude.
Ich hatte eben meine Notenbücher, die Begleitpartitur verräumt, die Orgel verschlossen und wollte gerade die Emporentüre zusperren, als ich plötzlich einen lauten Knall hörte, als wäre Metall auf das Kirchenpflaster gefallen, begleitet von Kindergeschrei, überlagert von einer keifenden Frauenstimme. Als ich in Richtung Altar blickte, rechts davon war die Türe zur Sakristei, erblickte ich zwei Ministranten, noch im Ministrantenkleid, die Reißaus nahmen und zur hinteren Kirchentür liefen. Was war los? Was spielte sich in der Sakristei ab? Wo war der Pfarrer? Wo kam die Frauenstimme her? Was war kaputt gegangen?
Ich beeilte mich, die Empore zur Orgel zu versperren, sprang zur eisernen Wendeltreppe (Was ist eine Wendeltreppe, wie würdet ihr die erklären? Also: Wir haben früher immer versucht, eine Wendeltreppe mit Gesten zu erklären: nämlich eine hohe Säule in der Mitte, und dann – machten wir mit den Armen der Händen Spiralbewegungen nach oben, da uns die Worte für eine anschauliche Beschreibung fehlten.) Ich sprang also zur eisernen Wendeltreppe, die vom Kirchenschiff zur ersten Empore führte, und hüpfte eher rund um die Mittelsäule der Treppe Richtung Kirchenboden, als achtsam Schritt für Schritt nach unten zu gehen. Dort erwischte ich noch die beiden Ministranten (natürlich Burschen, es war noch nicht die Zeit, dass Mädchen für würdig befunden wurden, den Gottesdienerdienst auszuüben), dort erwischte ich also noch die beiden Ministranten, die ganz aufgelöst nach Luft schnappten, und fragte sie, was passiert sei.
Voller Panik und völlig durcheinander stammelten sie ein paar zusammenhanglose Sätze: „Sie hat ihn geschlagen!“ „Sie schlägert auf ihn ein“ „Er hat gar keine Chance gehabt“ „Was er sich einbildet….“
„Ja wer?“ wollte ich wissen. „Der Pfarrer..“ „Nein, die Pfarrerköchin“ „Nein, die alte Pfarrerköchin“
Alt bedeutet hier nicht unbedingt alt an Jahren, denn das traf hier nicht wirklich zu , sondern alt im Sinne von vorherig. Denn die Pfarrei hatte einen emerierten Pfarrer, also im Ruhestand, und einen aktuellen „Würdenträger“. Und die Köchin des Pfarrers im Ruhestand hatte auf das Ende der Messe gelauert, machte sich, als das Kirchenschiff schon ziemlich leer war, forschen Schrittes, fast schon laufend, nicht etwa auch zum Kirchenausgang, sondern schnurstracks in die Sakristei nach vorne und begann zu schreien und auf den nichtsahnenden Pfarrer, der noch gar nicht die Zeit gefunden hatte, seine GottesdienstKleidung abzulegen, einzudreschen. Die Ministranten waren froh, der Furie durch die Flucht aus der Sakristei zu entkommen.
Der alte Pfarrer war im Ruhestand und hatte noch seine eigene Pfarrersköchin. Sein Nachfolger, der zu Beginn in der Gemeinde einen schweren Stand hatte, wurde von seiner eigenen Schwester bekocht, aber beide lebten im selben Pfarrhaus. Wie das funktionierte, da hatte ich mir nie Gedanken gemacht, aber offensichtlich gibt es auch bei geistlichen Herren so etwas wie Meinungsverschiedenheiten und Streit, bei christlichen Pfarrersköchinnen so etwas wie Stutenbissigkeit.
Der Ruheständler, ein großer Marienverehrer, war inzwischen schwer erkrankt, und sein Nachfolger – so wurde uns das später erzählt – hatte ohne irgendeine böse Absicht zu hegen, bei ihm nachgefragt, wo er im Todesfalle begraben sein wollte: im Friedhof seiner Pfarrkirche, oder etwa in Rudlfing, einer Filialkirche der Pfarrei, die als Marienkirche ein gern besuchter Wallfahrtsort war. Was für den einen, den neuen Pfarrer, eine ganz normale Frage war, bekam der alte Pfarrer – oder seine Haushälterin – in den falschen Hals und aus dem Engelamt wurde ein Bengelamt.
Ich dachte mir: Jetzt muss ich eigentlich die Adventlieder umschreiben: Statt: „Jetzt fangen wir zu singen an“: „Jetzt fangen wir zu schlägern an“, statt „Macht hoch die Tür,…. es kommt der Herr der Herrlichkeit“ – „Macht zu die Tür, …sonst kommt die Frau der Ohrfeigenzeit“ „Maria durch ein Dornwald ging – „ Maria in ihrem Zornwahn hing“ – „Tauet Himmel den Gerechten“ „Hauet nieder, den Gerechten“

Ach ja: Der bald danach verstorbene Pfarrer ist auf der südlichen Seite der Kirche in Rudlfing begraben.